Tobias Kröll “Gegenfeuer25” – Vorwort von Franz Schultheis

Paperback, 218 Seiten, ISBN-13: 9783757847043, Verlag: Books on Demand

Vor 25 Jahren veröffentlichte Pierre Bourdieu in der von ihm kurz zuvor gegründeten Edition Raisons d’Agir eine kleine Sammlung an öffentlichen Interventionen in Interviews, Reden oder Essays zu unterschiedlichsten gesellschaft­lichen Fragen. Er wandte sich hier in der Rolle eines neuen Typus der Sozialfigur des „Intellektuellen“ an die Öffentlichkeit, bei dem dezidiert Abstand von dem bis dahin vorherrschenden Bild eines „totalen Intellektuellen“, inkarniert in Jean-Paul Sartre, Abstand genommen wurde, indem er diesem den realuto­pischen Entwurf eines kollektiven, auf wissenschaftlicher Expertise basierenden politischen Engagements entgegensetzte. Dieser Idee eines von Beginn an inter­disziplinär und international orientierten „kollekti­ven Intellektuellen“ schloss sich spontan eine beachtliche Zahl an Zeitgenossen an, die Bourdieus radikale Kritik am neoliberalen Weltbild teilten. Zu diesen Mitstreitern gehörte von Beginn an auch der Autor der hier vorgelegten sozialtheoretischen und gesellschaftspolitisch engagierten Interventionen: Tobias Kröll.

Anknüpfend an die sich jetzt zum 25. Male jährende Bourdieu’sche „Erfindung“ eines neuen Stils intellektueller Praxis, aber auch an die heute offenkundige enorme Aktualität und Brisanz der von diesem Soziologen vorgelegten Diagnosen spätkapitalistischer Unterminierungen zivilisatorischer Errungenschaften – allen voran die in einem langen historischen Prozess durch die Arbeiterbewegungen der westlichen Länder erstrittenen sozialstaatlichen Sicherungen – lässt der Autor in diesem Bändchen dieses Vierteljahrhundert historischer Transformationen anhand seiner eigenen öffentlichen Interventionen Revue passieren. Sie spiegeln auf immer noch erfrischende Weise den von Bourdieu in persona vorgelebten Habitus eines hochgradig selbstreflexiven intellektuellen Eingreifens in die sich je konkret manifestierenden gesellschaftlichen Fragen und politischen Debatten. Als der für die deutschsprachigen Übertragungen der in der Reihe Raisons d’Agir[2] erschienenen Bände Verantwortliche, kann ich nur bedauern, dass diese kleine Textsammlung nicht durch andere wahlverwandte Beiträge wie jene von Bourdieu selbst oder jene von Serge Halimi oder Loïc Wacquant „gerahmt“, sondern mangels dieser Gelegenheit vom Autor in Eigenregie separat präsentiert werden.

Dass Tobias Kröll mit der Veröffentlichung seiner im Laufe der Jahre sukzes­sive auf Papier gebrachten Stellungnahmen zu politischen Fragen unterschied­lichster Provenienz nicht schon früher startete, dürfte sich zum guten Teil den oft schwierigen materiellen Existenzbedingungen und prekären Lebenslagen, die ihn über Jahre begleiteten, geschuldet sein, nicht minder aber auch einem für Bildungsaufsteiger mit einem zum guten Teil autodidaktisch erworbenem theoretischen Gepäck kennzeichnenden Habitus der Selbstbescheidung und der mit ihr so oft einhergehenden relativen Randständigkeit in einem meist von mit hohem kulturellen und symbolischen Kapital ausgestatteten akademischen Platzhirschen dominierten intellektuellen Diskursfeld zuzuschreiben sein. Aber auch wenn er sich durch die hier immer wieder zu spüren bekommene gläserne Decke der an ihrer eigenen Legitimität systematisch zweifelnden Bildungsaufsteiger allzu sehr „bedeckt“ hielt, dennoch passte er, von seinem Engagement her, ganz und gar zu der von Bourdieu propagierten Vorstellung vom „kollektiven Intellektuellen“, dessen Engagement nicht primär der narzisstischen Selbstinszenierung, sondern ganz der politischen Sache dient.

Hier sei auch daran erinnert, dass Raisons d’Agir aufs Engste mit einer politisch engagierten Assoziation von Forschern verknüpft war und die AutorInnen, die ihre Beiträge grundsätzlich ohne Honorar bereitstellten, über dieses Kollektiv selbst aktiv die Linie dieser Buchreihe mitbestimmten. Diese Orientierung wurde gleich zu Beginn darüber definiert, dass Raisons d’Agir immer den aktuellen Forschungsstand betreffend politischer Fragen und sozialer Probleme präsentieren sollte. Zu diesem Anspruch kam hinzu, dass die publizierten Büchlein „zugleich sehr chic und radikal“, nicht mit einem „Gewerkschaftsbulletin“ zu verwechseln sein sollten, „nüchtern, bescheiden, gut in die Jackentasche passend und preiswert“ sein sollten (s. „À contre-pente : entretien avec Pierre Bourdieu“, Vacarme, n° 14, 2001).

Erinnert sei auch daran, dass die Idee zu dieser Form intellektuellen Engagements nicht aus Kopfgeburten eines Schreibtischtäters entstammte, sondern sich direkt als Konsequenz aus einer von Bourdieu geleiteten kollektiven Forschung zum Thema „Das Elend der Welt“ ergab, eine Studie, in der sich die dann wenige Jahre später von Bourdieu in seinen Gegenfeuern vorgelegte Gesellschaftskritik weitgehend angelegt findet. Wie aktuell und dringlich diese Verknüpfung von vorbehaltloser Gesellschafts- und Zeitdiagnose und darauf aufbauender eingreifender öffentlicher Diskurse angesichts der 25 Jahre später mehr denn je offenkundigen Widersprüche unserer kapitalistischen Gesellschaften heute wäre, bedarf eigentlich keiner besonderen Begründung. Tobias Kröll hat auf seine Weise anhand der sich ihm stellenden politischen und sozialen Fragen den spezifischen Anspruch dieser Form engagierter wissenschaftlicher Reflexion konsequent fortgeschrieben.


[*] Franz Schultheis: Seniorprofessor für Soziologie der Kunst und der Kreativarbeit an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen.

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[2] Die nach dem Tod Bourdieus bald eingestellt werden musste, während die französische Edition fortexistiert.