Veröffentlicht in “Gegenfeuer25” (S. 133-145). Die englische Original-Fassung erschien unter dem Titel „People and Social Uncertainty. Critical Psychology’s orientation theory meets Bourdieu” in: Annual Review of Critical Psychology (ARCP) 2019, Vol. 16 „Kritische Psychologie“, pp. 268–281. Online abrufbar unter: https://thediscourseunit.files.wordpress.com/2019/12/0268.pdf, Zugriff am 29.05.2023.
Um vor dem Hintergrund von Gesellschaften, die sich aktuell verändern, Chancen und Beschränkungen individuellen Handelns in den Blick zu nehmen, ist es naheliegend, die praxisorientierten Ansätze von Bourdieu und der Tübinger Forschungsgruppe (TFG) als Werkszeuge zu benutzen. Pauschale, allgemeingültige Aussagen und Handlungsempfehlungen zu tagesaktuellen Themen lassen sich damit nicht geben. Solche theoretischen Ansätze sind in der Praxis immer mit handelnden Personen verbunden.
Der Perspektivwechsel vom „Standpunkt des Subjekts“ auf die strukturelle gesellschaftliche Ebene und zurück birgt gewisse Unsicherheiten und Unschärfen in der Darstellung. Beide Ebenen können nicht in einem Bild klar gefasst werden. Zudem sind viele Menschen als zu beschreibender, bzw. im Idealfall als „sich selbst mit Beschreibender“ Forschungsgegenstand selbst in Unsicherheit.
Pierre Bourdieus Anliegen ist eine „Tiefensoziologie“ die den Standpunkt des Subjekts aufwertet (vgl. z.B. 2001/2012). Das Anliegen des Tübinger Orientierungs-Ansatzes ist eine kritisch-psychologische Sichtweise, die Gesellschaft und soziales Umfeld grundlegend einbezieht und in der Praxis der sozialen Selbstverständigung aller am Forschungsprozess Beteiligten dient. In verschiedener Hinsicht bezog sich die Tübinger Forschungsgruppe in ihren Untersuchungen schon auf Bourdieu (siehe z.B.: Projekt U35, Vielfalt gefällt!“, Josef Held in dieser ARCP-Ausgabe).
In diesem Aufsatz werden Überschneidungen und Verbindungen zwischen dem soziologischen Ansatz Bourdieus und dem kritisch-psychologischen der Tübinger Forschungsgruppe (TFG) aufgezeigt. Neoliberalismus, Migration und Flucht sind Bezugspunkte für die Skizze einer Annäherung der beiden praxisorientierten wissenschaftlichen Ansätze.
Im ersten Abschnitt geht es in einer ersten Annäherung allgemein um die Wahrnehmung und Beschreibung von Unsicherheiten in der Orientierung von Menschen, im zweiten Abschnitt um Gesellschaften im Umbruch. Im dritten Abschnitt geht es um das Selbstverständnis von Wissenschaft „für die Menschen“. Die beiden anzunähernden Ansätze werden im vierten Abschnitt beschrieben.
Im fünften Abschnitt wird an Hand der Situation von Flüchtlingen aufgezeigt, wie die Kategorien angewendet werden können.
1. Social Uncertainty und Orientierung – eine Annäherung
an das Thema
Mit dem Siegeszug des Neoliberalismus veränderten sich die sozio-ökonomischen Infrastrukturen vieler Länder und der Weltwirtschaft seit Beginn der 1980er Jahre grundlegend.
Wirtschaftskrisen, Kriege und Bürgerkriege erschüttern viele Regionen der Welt und haben seit einigen Jahren massive Migrations- und Fluchtbewegungen zur Folge. Viele nationalstaatlich organisierte Gesellschaften als Bezugsraum menschlichen Handelns sind massiv in Bewegung geraten. Parallel dazu hat die Entwicklung und Verbreitung moderner Kommunikationstechnik die Möglichkeiten des sozialen Austauschs, der Vernetzung und der Orientierung verändert. Neue Chancen und Risiken sind entstanden, wie aktuelle Debatten um Fake-News und den Umgang mit, bzw. Zugang zu Informationen aus dem Internet zeigen.
Menschen bewegen sich im Zeitverlauf und räumlich auf der Welt; sie bewegen sich in Gesellschaft und zwischen Gesellschaften. Sie nehmen dabei verschiedenste kulturelle Elemente auf (Farb 1988: 27f)und entwickeln ein je eigenes persönliches Repertoire von Kompetenzen, Orientierungen und Handlungsmöglichkeiten.
Viele in der Sozialisation angeeignete Gewissheiten (egal ob positiv oder negativ bewertet), gelten in Umbruchsituationen nicht mehr uneingeschränkt. Dies gilt sowohl für Migranten als auch für Alteingesessene und Binnen-Migranten. Dies kann zu massiver Verunsicherung und Irritationen auf allen Seiten beitragen. Ereignisse wie Terror-Anschläge oder das „Fehl-Verhalten“ von Einzelnen und von Gruppen haben in Kombination mit modernen Medien massiven Einfluss auf Orientierungen und Handeln, wodurch wiederum unvorhersehbare Rückkopplungen zwischen verschiedenen Individuen und Gruppen sowie Selbst- und Fremdbildern entstehen können.
Rainer Bauböck benutzt zur Darstellung von Gewissheiten und Verunsicherung im Zusammenhang mit Migration (oder sich vor Ort schnell verändernden politischen Rahmenbedingungen) als Analogie ein anschauliches Bild: Man sitzt in einem stehenden Zug am Bahnhof und sieht neben sich einen anderen stehenden Zug. Schaut man aus dem Fenster, dann füllt der Zug den gesamten Hintergrund. Wenn der Zug neben einem sich nun in Bewegung setzt, wird man unweigerlich das Gefühl haben, selber in die entgegengesetzte Richtung loszufahren. Unsere normale Erfahrung ist, dass sich Hintergründe nicht bewegen, wenn der Vordergrund still steht. Staatsgrenzen und damit auch Staatsbürgerschaften stellen normalerweise einen allgegenwärtigen Hintergrund dar (vgl. Bauböck: 21). Dieser kann sich verändern, z.B. wenn Staatsgrenzen neu gezogen werden oder im Krieg und auf der Flucht. Solche abrupten „Hintergrund-Wechsel“ (mit massiven Auswirkungen auf das Leben) erfuhren Menschen beispielsweise in vom IS besetzten Gebieten im Irak.
Wenn man im Zug dann die Perspektive wechselt, indem man den Kopf dreht und zum gegenüberliegenden Fenster hinausschaut, wird man etwas irritiert merken, dass man selber nicht losgefahren ist. Die gleiche Irritation wird eintreten, wenn der Zug neben einem den Bahnhof verlassen hat und man das Bahnhofsgebäude dahinter (wieder) sieht, das sich nicht bewegt hat. Man merkt unmittelbar eine Verunsicherung und spürt: Die eigene Wahrnehmung und Orientierung sind relativ. Vermeintlich feste Orientierungspunkte können in Bewegung geraten und sich verschieben, um kurz darauf wieder ein anderes Bild entstehen zu lassen. Es braucht mehr oder weniger Zeit, um die Orientierung nach den Irritationen wieder zu stabilisieren.
Die Stabilisierung der Orientierung wird bei einer rein optischen Verunsicherung wie im Beispiel wesentlich schneller stattfinden als bei einem gesellschaftlichen Hintergrundwechsel bei dem das von Menschen verinnerlichte kulturelle Kapital (Bourdieu 1983, Kröll 2012) einen Großteil der persönlichen Ressourcen darstellt, mit der sie in einem neuen gesellschaftlichen Feld handeln und sich orientieren können und in dem andere Selbstverständlichkeiten gelten. Zumal das gesellschaftliche Feld nicht homogen ist und aus weiteren Unter-Ebenen besteht, in denen es jeweils eigene (unbewusste) Regeln gibt und wo es beispielsweise Variationen von Geschlechterrollen und Geschlechter-Hierarchien geben kann. Dazu kommt in Migrations-/Fluchtsituationen meist eine neue Sprache evtl. sogar mit anderen Schriftzeichen und einer anderen inneren strukturellen Logik und Ausdrucksmöglichkeiten.
Politisch veränderte Rahmenbedingungen in kurzer Zeit können z.B. in einem Land im politischen Umbruch mit massiver Unterdrückung der „herkömmlich Orientierten“ einhergehen.
Es ist naheliegend, zur Stabilisierung der Orientierung zunächst auf grobe Kategorien zurückzugreifen. Dies birgt die Gefahr der Stereotypisierung und im Falle von Konflikten die Gefahr des gegenseitigen Aufschaukelns.
2. Gesellschaften im Umbruch – Gegenstand und Theorie
Pierre Bourdieu entwickelte seine theoretischen Werkzeuge in den 1960er Jahren in Algerien in Auseinandersetzung mit der dortigen Gesellschaft (vor allem der Kabylen) unter dem Einfluss der französischen Kolonialmacht. Die vorkapitalistische kabylische Gesellschaft unterlag anderen Verhaltens-Logiken, als die kapitalistisch geprägte französische Gesellschaft. In Algerien kamen einheimische Menschen mit der kapitalistisch geprägten Logik der französischen Kolonialmacht in Berührung. Unter den herrschenden Bedingungen passten sich viele Menschen in den Städten der neuen Logik an, wodurch ein Bruch bzw. Widerspruch zu den Menschen unter der alten Logik entstand. Nach je eigenem Standpunkt der handelnden Subjekte hatte sich ihr Hintergrund verändert oder sie hatten sich selber bewegt, oder beides (siehe dazu Frisinghelli/Schultheis 2003, Kröll 2012). Um in einer kapitalistisch geprägten Wirtschaft erfolgreich zu sein sind andere Ressourcen (bei Bourdieu: „Kapitalsorten“) und Verhaltensweisen bedeutsam, als in einer vorkapitalistisch geprägten Wirtschaft.
Die Zeit der Umwälzungen in Algerien hielt Bourdieu auch fotografisch fest. Franz Schultheis (2003: 16f) betont, dass diese Bilder heute als Spiegel dienen können, um Dimensionen und Folgen aktueller ökonomischer und sozialer Umwälzungen besser verstehen zu können. Die (meisten) gegenwärtigen Gesellschaften sind „mit einer brutalen neoliberalen Radikalisierung des Kapitalismus und seiner Logik konfrontiert“, so Schultheis (ebd.). Immer breitere Bevölkerungsgruppen sind betroffen. „Auch sie sind mit einer neuen ökonomischen Logik konfrontiert, die vollkommen flexible und mobile, geschichts- und bindungslose Arbeitskräfte fordert, eine Logik, die mit ihren grundlegenden Denk- und Handlungsschemata schlicht nicht zu vereinbaren ist.“
Eine Parallele zwischen „entbäuerlichten“ Bauern aus der Kabylei und „dem demontierten und deregularisierten Arbeitnehmer heutiger kapitalistischer Gesellschaften“ dränge sich auf. Es genüge, die Zeugnisse aus der algerischen Kabylei mit den Forschungsergebnissen des unter Leitung Pierre Bourdieus entstandenen Kollektivwerks über die französische Gesellschaft „Das Elend der Welt“ zu vergleichen (Bourdieu et.al. 1997). Aktuell verändern sich europäische Gesellschaften zudem durch die sogenannte „Flüchtlingskrise“.
Die Tübinger Forschungsgruppe ging in ihrer Studie zu jungen Beschäftigten im Dienstleistungsbereich (in Deutschland) analog zu Bourdieu davon aus, „dass die (jungen) Beschäftigten unter Modernisierungsdruck stehen (Kröll 2013: 79), der weitgehend als „neoliberaler Modernisierungsdruck“ gefasst werden kann (ebd.). Menschen orientieren sich unter diesem Druck. Dieser beeinflusst ihr solidarisches Handeln, aber auch ihre subjektiven Handlungsmöglichkeiten. Bourdieu verglich in einem SPIEGEL-Interview die Wirkungsweise des Neoliberalismus auf die Stabilität von Gesellschaften mit der Wirkungseise Immunschwächekrankheit AIDS:
„Der Neoliberalismus ist eine Eroberungswaffe, er verkündet einen ökonomischen Fatalismus, gegen den jeder Widerstand zwecklos erscheint. Er ist wie Aids: Er greift das Abwehrsystem seiner Opfer an.“ (Bourdieu 2001: 120)[1]
Die Tübinger Forschungsgruppe untersuchte in ihrer Studie die Solidarität unter jungen Beschäftigten in verschiedenen Sektoren des Dienstleistungsbereichs und ihre subjektiven Handlungsoptionen. Bourdieus Vergleich mit dem menschlichen Immunsystem schien sich zu bestätigen. Solidarisches Handeln in der Arbeitswelt scheint durch Auswirkungen wirtschaftsliberaler Politik auf die Arbeitswelt nachhaltig beeinträchtigt zu werden. Die Untersuchung begann kurz vor der Lehmann-Pleite und dem spürbaren Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa. Die Haupt-Untersuchung fiel in den Zeitraum der beginnenden Krise (2007–2010).
Als Fazit konnte damals (für ArbeitnehmerInnen in Deutschland) festgehalten werden, dass Menschen, die heute an einer nachhaltigen, solidarischen Modernisierung der Arbeitswelt (und Gesellschaft) interessiert sind, vor der großen Herausforderung stehen, zur Stärkung der Widerstandskräfte „gegen die neoliberale Invasion“ (Bourdieu 1998) – „parallel zu laufenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen – zunächst an der (Wieder‑)Erschaffung von stabilen Räumen mitzuwirken, die gemeinschaftliches solidarisches Handeln und Lernerfahrungen begünstigen oder überhaupt erst wieder möglich machen“ (Kröll 2013: 94).
Dies läuft nicht widerspruchsfrei ab. Es gibt intensive Debatten und Auseinandersetzungen zwischen Gruppen, die (scheinbar) ähnliche Ziele haben. Die Vorstellungen über Mittel reichen weit auseinander (vgl. Kaul 2017 zur vermeintlich „sinnenleerten Gewalt“ bei den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017). Gleichzeitig unterliegen Universitäten einem zunehmenden ökonomischen Druck und einer gewissen „Vermarktlichung“ was davon unabhängige Forschung erschwert.
Die Migrationsbewegungen innerhalb von Europa in Folge der Finanzkrise, sowie die großen Fluchtbewegungen nach (Mittel‑)Europa vor allem in Folge des syrischen Bürgerkriegs brachten neue Akteure, Themen, Herausforderungen und Verunsicherungen in die öffentliche Wahrnehmung. Politisch-religiös motivierte Terroranschläge tragen zusätzlich zu Verunsicherung bei und beeinflussen die Orientierung verschiedenster Akteurinnen und Akteure.
[1] Oskar Negt prägte für solch eine gesellschaftliche Gesamtsituation den Begriff „Erosionskrise“.